Schnee

Niemand vermisst Tönges Engel. Niemand außer Liv. Egal, mit wem sie über ihren Großvater spricht, die Antworten fallen einsilbig aus und enden meist mit einem Schulterzucken. Nicht, dass es viele Leute zu befragen gäbe, eigenbrötlerisch, wie er nun einmal ist, hatte er vor allem in den letzten Jahren zu kaum jemandem Kontakt. Von Livs Angestellten haben lediglich zwei noch mit dem Firmengründer zusammengearbeitet, für die anderen war er nur ein unfreundlicher alter Mann, der dann und wann auftauchte und ihnen mit seinen Ratschlägen und Meinungen auf die Nerven fiel.

Anfangs findet Liv es beinahe aufregend, Nachforschungen über Tönges anzustellen. Ein Gefühl, das nicht lange vorhält, da sie überall in Sackgassen gerät. Sie telefoniert mit Krankenhäusern – vergebens. Sie platziert Steckbriefe im Internet – mit dem Ergebnis, dass sie per E-Mail das Angebot erhält, in einer Fernsehsendung aufzutreten: Realcity-TV, irgendein drittklassiger Privatsender. Sie ruft den Polizisten an, den sie im Schrebergarten getroffen hat, um ihn zu fragen, ob er ihre Bemühungen für nutzlos hält – darauf seine ehrliche Antwort: »Ja, absolut.Alles, was Sie tun, tun Sie im Grunde für sich selbst. Damit Sie sich besser fühlen.« Als sie ihm antwortet, es gehe ihr hervorragend, glaubt er ihr nicht.

In der Firma findet sie es schwierig, ihr Pensum zu schaffen, und sie ernennt Volker zu ihrem Stellvertreter, gibt wichtige Termine an ihn ab, was noch nie vorgekommen ist. In beruflichen Dingen ist sie normalerweise die Gewissenhaftigkeit in Person.Aber von Normalität kann keine Rede mehr sein, wenn ein Achtundsiebzigjähriger sich scheinbar in Luft auflöst und das jedem anderen egal ist. Ob das bei ihr genauso wäre? Vermutlich. Aaron würde ihr Verschwinden geheim halten, seine Freiheit genießen und allein in ihrer Wohnung genussvoll verlottern. Was sein gutes Recht wäre, ihrer Meinung nach. Schließlich ist sie nie für ihn da gewesen.Aus den paar guten Momenten, die sie hatten, kann man noch kein Vermissen ableiten, das ist Liv klar.

Die Treppe ist neuerdings ein Problem. Mit ihrer kaputten Hüfte wäre ein Schlafzimmer im Erdgeschoss von Vorteil, doch alles in Fritzi sträubt sich dagegen, die Verwandtschaft zu bitten, entsprechende Umbauten in Angriff zu nehmen. Besonders weil ein neues Bett gekauft werden müsste, das Ehebett aus Kiefernholz ist viel zu schwer und zu groß, um im Wohnzimmer Platz zu finden.Für derlei Anschaffungen fehlt das Geld. Vielleicht genügen ja auch ein paar Schmerztabletten. Sie greift zum Telefon, um die Tochter zu bitten, bei Gelegenheit ein geeignetes Mittel mitzubringen, sofern es keine Umstände macht.Als sie die Nummer gewählt hat und das Freizeichen ertönt, legt sie auf. Unnütz, das Mädchen mit einem Anruf bei der Arbeit zu stören, sie womöglich zu beunruhigen. Fritzi wird sie einfach bei ihrem nächsten Besuch darauf ansprechen. So lange heißt es, Zähne zusammenbeißen und gemächlicher schaffen, den Frühjahrsputz auf den Sommer verschieben oder schlimmstenfalls auf den Herbst, schließlich schreibt ihr niemand mehr das Tempo vor. Nicht so wie einst, als die greise Halldöra hinter den Ecken lauerte und darauf achtgab, dass die Magd aus der Fremde nur ja keine Pausen einlegte.

Eine Folge des Alterns: Ihre Tage mögen gezählt sein, aber Zeit besitzt sie im Überfluss. Verrückte Welt.

Liv hat ihr Handy verloren. Es muss aus Adergesäßtasche ihrer Jeans gerutscht sein, wäre nicht das erste Mal. Sie ahnt auch wo: auf dem Trümmerberg in Lübeck-Herrenwyk, der immer noch daliegt, weil lange über Genehmigungen für die Weiternutzung des Grundstücks gestritten wurde. Heute Nachmittag war die Übergabe an das Unternehmen für Betonrecycling.Ein angenehmes Treffen, man hat ihre Arbeit gelobt, die Sonne hat geschienen, und für eine Weile konnte sie Tönges vergessen. Jetzt, im Bewusstsein, dass sie seit Stunden nicht erreichbar ist – auch für ihn nicht –, hat sie ein schlechtes Gewissen. Obwohl es nach neun Uhr ist und dämmrig und sie eigentlich gerade in die Badewanne gehen wollte, beschließt sie, sich das Telefon sofort zurückzuholen.Damit sie es vor Ort anrufen kann, will sie Aarons iPhone borgen, was ihm überhaupt nicht passt.Anstatt lange zu diskutieren, nimmt sie ihn mit.

Als sie in Herrenwyk ankommen, ist es dunkel, der Abendhimmel wolkenverhangen, kein Mond.

»Na toll.« Liv hat nicht an eine Taschenlampe gedacht, also parkt sie so, dass die Scheinwerfer zumindest einen Teil des Geländes erhellen, und befiehlt ihrem Sohn, im Auto zu warten.

»Boah, wie öde.«

»Du hättest zu Hause bleiben können.«

»Na toll.« Er öffnet die Tür, als wolle er aussteigen, bleibt aber sitzen und schaltet das Radio ein.

Liv muss klettern, seit heute besitzt sie keinen Schlüssel mehr für das Vorhängeschloss am Bauzaun. Sie spürt, wie Aaron sie vom Beifahrersitz aus beobachtet, versucht, eine halbwegs gute Figur zu machen, und fragt sich, was er über sie denkt. Manchmal ist es besser, nicht zu genau Bescheid zu wissen.

Sie landet unsanft auf beiden Füßen und löst damit eine Staubwolke aus, die sie zum Husten bringt. Nach einer Woche ohne Regen ist das Trümmerfeld völlig ausgetrocknet, die reinste Wüste. Auf der anderen Seite des Zauns hört Liv ihren Sohn lachen, droht, von den Scheinwerfern geblendet, mit dem Zeigefinger in seine Richtung, bevor sie sein iPhone nimmt und ihre eigene Nummer wählt. Freizeichen. Sie lauscht angestrengt, kann aber nichts hören außer den Bässen ihres eigenen Autoradios. Dieser Trottel. Sie will ihm ein Zeichen geben, doch das ist unnötig.Als hätte er ihre Gedanken gelesen, dreht Aaron die Musik leiser. Immer noch Freizeichen. Immer noch kein Klingeln.

Hilft alles nichts. Sie muss ans andere Ende. Die Nacht ist warm und schwer und umhüllt sie wie eine Decke. Zu ihrer Rechten ragen die Überreste der Fabrik in den sternenlosen Himmel, ein unordentlicher Haufen Steine, der Umriss eine zackenförmige Linie. Der Geruch von altem Mörtel. Liv kann nicht anders, sie muss einen Augenblick verharren und staunen, dass dies hier ihr Werk ist. Die Gewissheit, jede von Menschenhand errichtete Mauer mit ein wenig Nachdenken zu Fall bringen zu können, und das in Sekundenschnelle, hat sie immer schon erhebend gefunden. Zwischen ihren Zähnen knirschen Sandkörner, ihre Fußgelenke brennen und erinnern sie daran, warum sie hier ist. Aaron wartet.

Sie wählt noch einmal. Diesmal hat sie Glück. Irgendwo weiter hinten erklingen Synkopen, die ersten Takte von »Sentimental«, einem Lied von Porcupine Tree – ihr aktueller Klingelton. Hat sie also richtig vermutet: Das Handy ist ihr aus der Tasche gerutscht. Mit dem festen Vorsatz, das Telefon nie wieder in der Jeans aufzubewahren, stapft Liv dem Geklimper entgegen. Sie ist schon ziemlich nah dran, als sie eine Gestalt bemerkt, die sich in die gleiche Richtung bewegt. Ein Schatten im Dunkel, genau wie sie. Das Scheinwerferlicht reicht nicht weit genug, um mehr zu erkennen.

»Hey«, ruft Liv, ohne nachzudenken. Bedenken hat sie keine, dafür geht alles zu schnell. Wie es scheint, hat die Gestalt das Handy vor ihr erreicht, denn sie bückt sich und das Klingeln erstirbt.

»Hey«, ruft sie noch einmal.

Kurzes Zögern, womöglich ein Blick in Livs Richtung, sie ist sich nicht sicher, dann rennt der oder die andere los, flüchtet vor ihr, und Liv reagiert instinktiv, indem sie ihm nachsetzt. Es muss ein Mann sein, so mühelos, wie er sie abhängt.Aber beim Überwinden des Zauns stellt er sich ungeschickt an, so dass Liv wieder Boden gutmacht.Von einem kindischen sportlichen Ehrgeiz in Erregung versetzt, verfolgt sie ihn weiter, findet ihren Rhythmus und schafft es beinahe, sein Tempo zu halten.

Der Abstand zwischen ihnen vergrößert sich nur langsam. Sie laufen jetzt mitten auf der Straße, kein Auto weit und breit, das Gewerbegebiet ist verwaist, die Straßenlaternen zerschlagen oder ausgeschaltet, unmöglich zu erkennen, wem sie da eigentlich nachstellt. Das Hallen ihrer Schritte. Das Hämmern ihres Herzens. Die Last der schwülwarmen Luft. Liv nimmt jedes Detail wahr wie eine neutrale Beobachterin, als ob sie zu Hause vor dem Fernseher säße, dabei fängt sie allmählich an, sich zu fragen, was dieser Jemand, der da rennt, eigentlich vorhat. So viel Risiko für ein Handy. Der Dieb könnte bewaffnet sein, gewaltbereit. Egal. Sie braucht das Telefon. Denn Tönges kennt die Nummer.

Den Mann zieht es zum Fluss, er wirft sich die Böschung hinunter. Liv hört, wie die Blätter des Buschwerks gegen seine Kleidung klatschen, bevor sie selbst die Kante erreicht, wo sie zögert und ihn unten über die Bahngleise stolpern sieht. Überrascht registriert sie, dass die Nacht heller geworden ist, zwischen schwarzen Wolken hat sich der Halbmond einen Platz erobert, rötlich und nah, die Trave reflektiert seinen Schein.Aufgeputscht durch das bisschen Licht, setzt sie die Verfolgung fort.

Der Uferweg mit seinem gelben Kies ist ein leuchtendes Band, wie zum Rennen gemacht. Ich habe keine Angst, denkt Liv und wundert sich zugleich über das Rauschen in ihren Ohren, so laut, dass die Schritte, seine und ihre, kaum noch zu hören sind. Plötzlich vollführt der Verfolgte eine schwungvolle Bewegung mit dem rechten Arm, ein Gegenstand fliegt durch die Luft, schlägt vor ihr auf dem Boden auf, und noch bevor Liv ihn erreicht, weiß sie, dass es ihr Handy ist. Ungläubig starrt sie ihm nach: Das war's, er hat kapituliert. Sie istdie Siegerin.

Keuchend, die Hand in die Seite gepresst, bleibt Liv stehen und hebt das Telefon auf. Es ist eingeschaltet, und von Kratzern auf dem Display abgesehen, scheint es in Ordnung zu sein. Erst jetzt bemerkt sie den Schmerz zwischen ihren Rippen. Wie Messerstiche. Lange hätte sie nicht mehr durchgehalten.

Sie will gerade zurück zum Auto gehen, als sie bemerkt, dass der Dieb sich immer noch in der Nähe aufhält. In sicherer Entfernung ist er stehen geblieben und beobachtet Liv, das spürt sie genau, obgleich sie sein Gesicht nicht sehen kann. Er scheint mit ihr zu spielen. Liv fragt sich, was das soll. Irgendetwas hält sie davon ab, die Sache zu beenden. Sie versucht, eine selbstbewusste Haltung einzunehmen, und geht langsam auf ihn zu, überzeugt, er würde daraufhin endgültig die Flucht ergreifen und sie würde es dabei bewenden lassen. Doch er tut ihr nicht den Gefallen. Stattdessen dreht erden Spieß um. Die Art, wie er los rennt, diesmal in ihre Richtung, lässt keinen Zweifel an seinem Vorhaben: Wenn er sie kriegt, ist es kein Spiel mehr, er wird sie ganz bestimmt umbringen, sie und schlimmstenfalls auch Aaron, der immer noch im Auto wartet, wahrscheinlich völlig von der Rolle, weil er nicht weiß, wo sie bleibt.Also wieder laufen, aber jetzt fällt es ihr schwer, weil alles wehtut, die Füße, die Lungen, der Unterleib. Ihr Magen rumort. Sie hat noch kein Abendbrot gegessen.An der Böschung angelangt, muss sie sich an den Ästen der Büsche hochziehen.

Als Liv das Auto erreicht, ist es leer, das Radio läuft, der Schlüssel steckt. Sie haut auf die Hupe und schreit nach ihrem Kind.Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommen. Dann taucht Aaron auf der Beifahrerseite auf, und sie herrscht ihn an, er solle einsteigen. Der Motor lässt sich auch mit zittrigen Händen ohne Probleme starten. Beim Beschleunigen ein Blick in den Rückspiegel: Die Straße ist menschenleer und sieht im fahlen Mondlicht so schläfrig aus, als hätte sie die ganze wilde Jagd nur geträumt.

Sie bekommt keinen Bissen hinunter. Liv hatte gedacht, es wäre eine gute Idee, zu McDonald's zu fahren, um sich zu beruhigen und das flaue Gefühl in ihrem Magen mit einem Cheeseburger zu betäuben. Jetzt lässt schon der Geruch von gegrilltem Hackfleisch Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie trinkt ihre Apfelschorle in einem Zug.

Aaron, der schweigend neben ihr sitzt, ist anscheinend ebenso verstört wie sie, denn auch er lässt seine Pommes unangetastet kalt werden.Auf der Fahrt hat sie ihn angeschnauzt, weil er nicht wie befohlen im Auto gewartet hatte. Jetzt tut es ihr leid.

»Da war so ein Typ auf dem Gelände, der hat mein Handy geklaut.«

»Hab ich gesehen.«

»Hast du sein Gesicht erkannt?«

Kopfschütteln.

»Ich hab's mir zurückgeholt, mein Handy«, erklärt Liv nicht ohne Stolz, und er starrt sie an, als ob er sie für die letzte Idiotin hält.

»Das Scheißteil«, sagt er und schüttelt erneut den Kopf. »Der hätte dich abstechen können.« »Hat er aber nicht.«

»Dein Glück.« Er dreht demonstrativ den Kopf zur Seite, um ihr zu zeigen, dass ihm das Ganze egal ist.

Er hat recht, Liv weiß das. Ein komisches Gefühl, wenn der eigene Sohn vernünftiger ist als man selbst. Sie würde ihm gern erklären, warum das Telefon für sie so wichtig ist – allein wegen der Nummer –, doch sie hält den Mund, da er auf ihre Erklärungen ohnehin keinen Wert legt. Er hat auch nie nach dem Grund gefragt, dass sie ihn damals verlassen hat. Sie könnte sich rechtfertigen: Janko wollte es so.Aber das wäre nur die halbe Wahrheit, und es entschuldigt gar nichts. In Wirklichkeit hat sie gekniffen. Irgendwann wird sie ihn um Verzeihung bitten. Für alles, auch diesen beschissenen Abend. Sobald sie die richtigen Worte parat hat.

In der Nacht hat Liv einen dieser Alpträume, welche mittendrin ein Erwachen vortäuschen: Sie ist wieder am Fluss und rennt, ohne zu begreifen, ob sie Jägerin oder Gejagte ist, dann das falsche Erwachen, Erleichterung, sie geht in die Küche, um etwas zu trinken, doch sie kommt nicht an den Kühlschrank, denn auf einmal ist überall Sand, bergeweise, er rieselt auf sie herab, droht, sie lebendig zu begraben. Als sie sich freikämpfen will, merkt sie, dass es kein Sand ist, sondern Schnee. Schnee, der fällt wie Sand. Liv ist barfuß und im Sommerkleid, in der Hand das Messer ihres Großvaters.

Sie stößt einen kurzen Schrei aus – und liegt nun wirklich wach in ihrem Bett, begraben unter schweren Daunen, die Decke bis an die Stirn über das Gesicht gezogen. Die Atemnot ist Realität. Sie muss unbedingt die Winterdecke gegen eine leichtere eintauschen.

Liv schaltet das Licht ein und entdeckt Blütenblätter auf dem Parkett. Kirschblütenblätter, weiß wie frisch gefallener Schnee. Sie schläft bei offenem Fenster. Draußen hat der Wind aufgefrischt, die Gardine wölbt sich. Liv kann die Ostsee riechen und Blütenduft. Gibt es überhaupt Kirschbäume im Hof? Sie hat nie darauf geachtet. Eine unangenehme Ahnung von Kontrollverlust beschleicht sie und lässt sie nicht mehr schlafen bis zum Tagesanbruch.

Morgens gelber Himmel. Gewitterluft. Liv ist kein Mensch, der sich lange mit Alpträumen auseinandersetzt, sie träumt insgesamt selten, jedoch diesen kann sie nicht abschütteln, ebenso wenig wie die Ereignisse vom Vorabend. Sie hatte erwartet, Muskelkater zu bekommen, aber sie hat bloß Kopfschmerzen, und sie spürt ihren Nacken. Obschon es keinen Sinn ergibt, wird sie das Gefühl nicht los, die Konfrontation mit dem Handydieb und das Verschwinden ihres Großvaters hätten etwas miteinander zu tun. Sie weiß, dass Ruinen zwielichtige Typen jeglicher Art anziehen, Junkies, Jugendbanden, Schrottsammler auf der Suche nach verwertbaren Metallresten. Deshalb die Zäune. Es muss Zufall gewesen sein. Sie ist nur zu müde, klar zu denken.

Draußen wird es finster, eine Wolkenwand treibt einen dichten Regenschleier vor sich her. Liv muss das Licht einschalten. Als das Unwetter über der Stadt niedergeht, stellt sie sich ans Fenster, beobachtet Blitze und zählt die Sekunden bis zum Krachen des Donners.Anschließend kocht sie Kaffee und ruft auf der Arbeit an, um ihre Termine für den Tag absagen zu lassen. Sie beabsichtigt, ein weiteres Mal alle Mitglieder der Familie Engel über Tönges zu befragen und sich dabei besonders auf die Beziehung zu seiner Schwester Inga zu konzentrieren. Die vage Möglichkeit, er könnte sich auf die Suche nach ihr begeben haben, wie er es Jahrzehnte zuvor schon einmal getan hat, erscheint ihr zwar weit hergeholt, aber es ist ihr einziger Ansatzpunkt, um sein Verschwinden zu erklären.

Sie hat gerade die Nummer ihrer Großmutter gewählt, da klingelt es energisch an der Tür, und als Liv unbedacht öffnet, steht nicht, wie erwartet,Aaron vor ihr, der ständig seinen Schlüssel vergisst, sondern Henny. Mit einem triefnassen Schirm in der Hand und einer DIN-A3-Mappe aus schwarzer Pappe unter dem Arm. Liv wird sich bewusst, dass sie immer noch ihr Nachtzeug trägt, ein verwaschenes T-Shirt und einen reichlich aus der Form geratenen Hüftslip.

»Oh, du bist das. Hallo. Was hast du denn da?«

Henny mustert sie mit einem dezent anklagenden Stirnrunzeln, wie nur Mütter und Großmütter es zustande bringen. »Dürfte ich zuerst einmal hereinkommen?«

»Klar doch. Bitte.« Liv tritt zur Seite.

»Bist du krank?«

»Nein.«

Die Großmutter sucht vergebens nach einem Schirmständer, drückt den tropfenden Knirps schließlich der Enkelin in die Hand. Liv hilft ihr beim Ablegen,tauscht das Schlafzeug gegen Jeans und Pulli, kämmt ihr Haar, schenkt Tee ein und bemüht sich redlich, eine möglichst unverfängliche Konversation anzufangen und am Leben zu erhalten, bis die alte Dame nach Tasse Nummer drei mit ihrer Entdeckung herausrückt.

»Du interessierst dich doch für Inga, oder?«

»Ja klar.«

»Dann schau dir das an.«

Endlich: Die schwarze Mappe kommt ins Spiel. Es handelt sich um Bleistiftzeichnungen und Porträts, das Motiv bleibt immer dasselbe, soweit Liv erkennen kann: eine Frau, erst jung, dann in mittleren Jahren, zuletzt als Greisin. Ein feines Gesicht, der Ausdruck gleichbleibend ernst und dabei mädchenhaft. Jedes Bild ist mit einem Datum versehen, die erste Zeichnung entstand demnach 1942, die letzte vor etwas mehr als zwei Jahren.

Liv begreift sofort. »Ist sie das?«

Die Großmutter nickt. »Sie war rothaarig, oder?«

Erneutes Nicken. Das Licht im Zimmer wird grell, als vereinzelte Sonnenstrahlen sich mit Macht ihren Weg durch die abziehende Gewitterfront bahnen. In der Ferne donnert es noch. Liv lässt das Rollo herunter, um die Zeichnungen besser betrachten zu können.

»Stammen die alle von Tönges?«

»Davon gehe ich aus. Die Mappe war bei seinen Sachen. Ich habe ein wenig ... ausgemistet, falls du verstehst, was ich meine.«

Liv versteht, aber sie springt nicht darauf an. Das Tempo, mit dem die Großmutter ihr gemeinsames Leben mit Tönges abwickelt, schockiert sie anhaltend, sie will jedoch nicht schon wieder deshalb streiten.

Aus künstlerischer Sicht sind die Zeichnungen wohl als gelungen anzusehen. Tönges kann gut mit dem Bleistift umgehen, das ist ihr nicht neu. Er hat früher oft Gebäude skizziert – hin und wieder auch die Trümmer nach dem Abriss. Von den Porträts seiner Schwester wusste sie nichts. Es kommt ihr unerhört sentimental vor, sich jemanden, den man liebt und vermisst, auf diese Weise erhalten zu wollen. Geradezu schwärmerisch, unpassend für ihren Großvater, erst recht, da es bloß um eine Verwandte geht. Trotzdem, er war es, sein Stil ist deutlich erkennbar:wenige Striche, große Wirkung. Tönges und seine Sparsamkeit.

»Wie konnte er sie nach 1949 noch zeichnen?«

»Nach Gefühl, vermute ich. Er hat sich einfach vorgestellt, wie Inga in dem jeweiligen Alter ausgesehen haben könnte.«

»Das ist echt abgefahren«, sagt Liv betont lässig, obwohl sie sich sehr wohl bewusst ist, einen Beweis dafür in den Händen zuhalten, dass Tönges den Verlust seiner Schwester nie verwinden konnte.

Die Großmutter korrigiert sie. »Nein, Liv, ich glaube, das nennt man Liebe.«

Liv hört die Eifersucht in Hennys Stimme und hat Verständnis dafür. »Du mochtest sie nicht besonders, oder?«

»Nein. Um ehrlich zu sein, ich war krank vor Eifersucht, so sehr hat Tönges sie angehimmelt, dieses blasse dumme Ding.Als sie verschwand, war ich richtig froh, bis mir klar wurde, dass es keine Rolle spielt.«

»Wie meinst du das?«

»Er hat auch so sein ganzes Leben mit ihr verbracht anstatt mit mir oder unseren Kindern. Deswegen ist unsere Familie so ein Trauerspiel. Frag deinen Vater.«

Genau das hat Liv vor. Utz Engel steht ohnehin auf ihrer Liste.

Am frühen Abend überwindet sie ihre Abneigung gegen das eigene Elternhaus und fährt in die Weberstraße. Ihr letzter Besuch dort ist ein Jahr her. Überall Pfützen, auf dem Fußweg, in der Einfahrt. Die Hecke ist nicht so akkurat zurechtgestutzt, wie Liv sie in Erinnerung hat. Er öffnet. Ihr Vater. Der Mann, den Tönges einen »Pisser« nennt.

»Jetzt kommst du.« Jedes Wort ein Vorwurf für sich. Dann Pause, bevor er in völlig verändertem Tonfall neu ansetzt, als hätte es den ersten Satz nie gegeben: »Immer herein in die gute Stube.«

Liv zögert, tritt sich die sauberen Sohlen mit einer Gründlichkeit auf der Fußmatte ab, als wäre sie über einen Acker gelaufen, worauf ihr Vater sie bittet, die Schuhe auszuziehen. Freundlicher als nötig. Er hat seit jeher diesen Hang zu indifferentem Verhalten: Loben in Moll, Tadeln in Dur, schnelle Tonartwechsel – was soll ein Kind damit anfangen? So gesehen, war sein Ausbruch an Ostern ein Fortschritt: eine klare Angelegenheit.

Auf Socken im Elternhaus. Die Kälte der Fliesen unter den Füßen wirft sie zurück in die Zeit des heimlichen Hereinschleichens zu später Stunde. Unwillkürlich legt sie die ersten Schritte auf Zehenspitzen zurück. Sie folgt den breiten Schultern ihres Vaters. Er führt sie dann doch nicht direkt in die gute Stube, sondern in sein Arbeitszimmer im Obergeschoss. Ihr ehemaliges Kinderzimmer.

»Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn wir hier oben reden. Deine Mutter ist vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie ist müde von der Arbeit.«

»Kein Problem.«

An der Wand steht noch das blaue Ikea-Schlafsofa, auf dem manchmal ihre Freundinnen übernachten durften, aber niemals Jungs. Darauf nimmt sie Platz, Utz Engel setzt sich dazu. Es ist kein sonderlich breites Sofa.

»Ich hörte, du beschäftigst dich mit Tönges?«

»So kann man es auch sagen.«

Wieder ein Flashback: Janko und sie in derselben Position mit einem Walkman, jeder hat einen der beiden Ohrstöpsel angelegt, und sie hören »Always on my mind« in der Version von den Pet Shop Boys.

»Wie kommst du dazu, der Polizei zu erzählen, ich hätte Tönges beschimpft?«

»Hast du doch.«

»Liv! Das war eine Ausnahmesituation.« »Er ist verschwunden. Das ist auch eine Ausnahmesituation.«

»Und was kann ich dafür?«

»Keine Ahnung. Sag du es mir. Kannst du etwas dafür?« »Nein. Natürlich nicht.«

Da sie nebeneinander sitzen, müssten sie die Köpfe wenden, um einander in die Augen zu sehen. Wie auf Verabredung tun sie es nicht. Stattdessen lässt Liv den Blick im Zimmer umherwandern: die alte Textilfasertapete in Braun-Beige, das Regal, auf dem zwischen Sachbüchern einige ihrer liebsten Jugendromane verstauben, die Dellen im Türrahmen, die entstanden, als sie ihre Eltern beim Streiten mit Gegenständen bewarf, bevorzugtes Geschoss: ein schwerer schwarzer Locher.

Sie bekommt das Gespräch nicht in Gang.

»Warum, Liv? Warum kommen wir nicht miteinander aus? Was hatte dir mein verantwortungsloser Vater zu bieten, das du bei mir nicht bekommen konntest?«

Liv schaut auf ihre grauen Socken, die Füße lächerlich winzig neben seinen, überhaupt wird ihr an seiner Seite jedes Mal die eigene Schmächtigkeit bewusst, zugleich scheint es, als würde er in ihrer Anwesenheit schrumpfen. Utz Engel ist ein Mann wie ein Bär und dabei ein solcher Schwächling. Sicher, er leidet, weil sein Leben nicht so verlaufen ist, wie er es sich vorgestellt hat, aber er setzt seinen Kummer als Waffe ein, um andere unter Druck zu setzen. Darauf scheint er seine ganze Energie zu verwenden. Das macht sie aggressiv.

»Weißt du,Liv, ich wollte bei dir alles anders machen, als ich es von zu Hause kannte.Anders als Tönges. Ich wollte ein richtiger Vater sein. Mir war Familie wichtiger als beruflicher Erfolg. Ich habe mich von Anfang an um dich gekümmert, wollte alles von dir wissen, alles teilen .«

»Merkst du nicht, wie erdrückend das klingt?«, unterbricht Liv. »Du kannst nie alles über jemanden wissen. Wie soll das gehen?« Auf ihren Großvater gemünzt, fügt sie hinzu: »Nix weiß man.«

»Aber du warst ein Kind. Mein kleines Mädchen. Wir hatten alle Chancen.« Seine rechte Hand kreist in der Luft, und für einen Augenblick sieht es aus, als wolle er sie auf ihrem Knie platzieren.

Liv rückt an den äußersten Sofarand. Sie kennt das, er hat früher oft Körperkontakt gesucht, einen Arm um sie gelegt oder eine Hand auf ihre Schulter, solange, bis das Gewicht der Berührung unerträglich wurde und sie sich ruckartig daraus befreite. »Vielleicht hast du dich zu sehr gekümmert, als ich klein war. Kinder brauchen Freiräume. Und Grenzen. Du und Mama, ihr habt bei mir weder das eine noch das andere geregelt gekriegt. Tönges schon.«

»Seit wann verstehst du denn etwas von Kindern?«, fragt er.

Liv nimmt die Spitze hin, ohne zu antworten, und redet sich ein, es mache ihr nichts aus. Wie billig von ihm, auf Aaron anzuspielen. Typisch.

»Jedes Mal, wenn wir versucht haben, dir Grenzen zu setzen, war Krieg.«

»Deswegen spricht man von Grenzen. Weil es darum geht, sie zu verteidigen.«

»Heißt das, du wirfst uns vor, wir hätten dich zu nachlässig erzogen? Was hätten wir denn noch tun sollen: dich einsperren?«

Wieder dieser freundliche Unterton, wo er nicht hingehört, ebenso unpassend wie die Tatsache, dass sie nach wie vor in falscher Eintracht auf dem Sofa ausharren.

»Ich werfe euch gar nichts vor. Diese ganzen Geschichten von früher sind doch längst verjährt. Vergiss es, Papa. Mach deinen Frieden damit, dass wir uns nicht leiden können, es hat nicht funktioniert, warum auch immer. Wir haben einfach nicht zueinander gepasst.«

Liv versucht sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es war, als sie ihren Vater noch nicht unsympathisch fand. Es gibt Beweise: gelbstichige Fotos, sie als Kleinkind auf seinem Schoß, und zwar fröhlich und anschmiegsam. Sie erinnert sich an die Bilder, nicht aber an das Empfinden. Egal, wie nah sie beieinander sitzen, Welten trennen sie. Utz Engel ist ein Mensch, den sie nicht mag. Punkt. Ein Pisser.

»Aber Tönges, der passt zu dir?«

»Genau. Und deshalb werde ich ihn auch zurückholen. Ob du mir dabei hilfst oder nicht.«

Mehrere Tage fällt Regen.Anfangs seicht, dann werden die Tropfen schwer, spinnen Schnüre und knüpfen einen Vorhang, der Bjarg von der Welt abtrennt. Überall im Haus der unangenehme Geruch nach Schwefel und nassem Leder. Fritzi weiß, was das bedeutet: Der Braune geht um, und er trägt seinen klammen, stinkenden Mantel. Wo es ihm gefällt, macht er ihr das Leben schwer, schlägt ihr den Topf mit frisch gekochtem Haferbrei aus der Hand, holt nachts die Mettwurst aus dem Kühlschrank, sodass sie am Morgen verschimmelt ist,leitet Regen in verspielten Rinnsalen unter der Haustür hindurch in die Diele. Fritzi müht sich, wischt den Boden trocken, so gut sie kann, das Wasser züngelt um sie herum, zu guter Letzt legt sie Handtücher vor die Tür.

Tristesse in der Speisekammer: Bis auf Dörrfleisch und Klippfisch ist kaum noch etwas vorhanden. Die meisten Konserven sind abgelaufen. Sie benötigt dringend einige Vorräte.

Ihr letzter Besuch im Supermarkt liegt Monate zurück, da hat der Enkel für sie Chauffeur gespielt. Ihrer Tochter kann sie dies nicht zumuten, zumal das Mädchen nichts von sich hören lässt und auch die regelmäßigen Besuche wieder eingestellt hat, worüber Fritzi einerseits froh ist, andererseits bräuchte sie ab und zu wohl doch etwas Unterstützung im Alltag. Die Hüfte tut weh, und sie hat keine Tabletten im Haus. Was sie besonders peinigt: das Melken. Es sitzt sich schlecht auf dem niedrigen Schemel, dazu der Gang über die Hauswiese hinüber zu den Kühen, zwei Mal täglich, überall Schlamm, das Gras mit einem Film überzogen wie Schmierseife. Kein Wunder, dass sie eines Abends fällt und mit der Wange in einer Pfütze landet.

»Verfluchtes Drecksland.«

Der Braune lacht.

Der Regen rauscht.

Fritzi liegt auf dem Bauch und kann sich nicht rühren, so beißt der Schmerz, dem sie ebenso wenig entkommen kann wie dem Wolkenbruch. Sie wird gesteinigt von Wasser. Stunden vergehen, so kommt ihr vor, bis sie sich halb humpelnd, halb kriechend zurück ins Haus und drinnen die Treppe hoch ins Schlafzimmer geschleppt hat. Wie ein nasses Bündel Strandgut lässt sie sich in Kleidern aufs Bett fallen und schläft sofort ein, ohne das Radio einzuschalten, was selten genug vorkommt. Zum ersten Mal seit langem träumt sie von ihrem Vater, wie er lebte und wie er starb, ein Mann ohne jedes Gewissen.

Als sie erwacht, ist es wegen des weit geöffneten Fensters kalt im Raum und der Regen ist in Schnee übergegangen. Fritzi stöhnt auf. Es geht ihr schlecht, regelrecht furchteinflößend, jetzt tut nicht mehr nur die Hüfte weh, sondern alles an ihrem Körper, die Knochen, die Innereien, die Haut – einfach alles. Außerdem hat sie Hunger und Durst.

Schlimmer jedoch belastet Fritzi der Schneefall. Noch sind es nasse, schwere Klumpen: Sulz, der auf dem Fensterbrett augenblicklich schmilzt, Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt, kein Problem für die Kühe. Was aber soll werden, wenn ein echter Kälteeinbruch kommt, mit strengem Frost? Wie soll sie die Kühe in den Stall zurückkriegen? Nichts ist so bedrohlich für eine kleine Landwirtschaft unter nordischem Himmel wie die Auferstehung des Winters im späten Frühling. Unvergessen Jóns Verzweiflung im Jahr 1955, als die Schafe von den Sommerweiden zurück in den Stall geholt werden mussten, wo es für sie nichts zu fressen gab außer fauligem Wildheu. In einer Woche verloren sie die Hälfte der Muttertiere. Nachts warf er sich von einer Seite auf die andere und boxte unablässig mit der Faust ins Kopfkissen, während sie so tat, als schliefe sie tief und fest. Ein Trost: Um die Schafherde von Bjarg kümmert sich heute ein Pächter, der Nachbar. Fritzis Sorge gilt allein den Kühen.

Ein Eingeständnis, das ihr nicht erspart bleibt: Sie ist bettlägerig, zumindest vorübergehend, da jeder Versuch aufzustehen scheitert. Draußen Tanz der Wolkengespenster in allen Schattierungen von Grau. Die Zeit verstreicht mit nüchterner Grausamkeit.

Wenn sie Tönges wäre, also ein Mann ohne Verpflichtungen, ungebunden, außer vielleicht an die eigene Vergangenheit – wohin würde sie gehen? Liv weiß, sie braucht eine Theorie, eine Hypothese als Orientierungshilfe, um einen Beweis erbringen zu können über sein Schicksal, andernfalls läuft sie bloß weiter wie verirrt durch die eigene frühjahrstrunkene Stadt, spricht ohne Plan mit Leuten und bringt nicht das Geringste ans Licht. Die Familie, die alten Kollegen, die Kleingärtner von den Nachbarparzellen – niemand hat ihn nach Ostern irgendwo gesehen. Wie weit kommt ein alter Mann mit einem Fahrrad?

Tage verstreichen ungenutzt, sie geht nicht zur Arbeit und kommt mit ihrer Suche nicht voran. Eines Nachts kommt ihr die Idee,eine Plakataktion zu starten, und sie verbringt Stunden am Computer und bastelt an einem Entwurf, um dann am Morgen alles wieder zu löschen und die Sache zu vergessen, überzeugt, Tönges würde ausrasten und monatelang kein Wort mit ihr reden, falls er davon erführe. Sie kann ihn regelrecht fluchen hören: »Für was hältst du mich? Für einen entlaufenen Köter?«

Vorübergehend ist sie rat- und planlos, spielt sogar mit dem Gedanken aufzugeben. Ausgerechnet ein Anruf ihrer Cousine Tessa bereitet diesem unwürdigen Zustand ein Ende.

»Machst du immer noch Jagd auf Tönges?«

»Wie man's nimmt.«

Es ist Mittag, Regen trommelt gegen die Scheiben, und Liv liegt im Bett und kann sich zu nichts aufraffen. Der Fernseher läuft, aber sie schaut nicht hin.Ein merkwürdiges Gefühl, wenn der Tagesablauf von heute auf morgen seine gewohnte Struktur verliert. Sie fühlt sich gestrandet.

»Ja oder nein?«, fragt Tessa.

»Eher ja.«

»Dann hör zu. Letztes Jahr zu Weihnachten kam bei uns ein Brief für ihn an.«

»Bei euch? Wieso?«, fragt Liv, die Mühe hat, sich zu sammeln.

»Vermutlich weil der Absender nur die alte Adresse hatte. Das Haus hat schließlich jahrelang den Großeltern gehört.« »Ach ja. Und wer war der Absender?«

»Keine Ahnung. Es stand kein Name auf dem Umschlag. Deshalb habe ich auch nachgeschaut, wo der Brief abgestempelt worden ist.« Sie macht eine Pause, um die Cousine zur Zwischenfrage zu ermuntern.

Liv tut ihr den Gefallen. »Wo?«

»Da kommst du nie drauf.«

»Bestimmt nicht.Also sag es doch einfach.«

»In Island.«

Island? Das Wort schlägt eine Saite in ihrem Innern an, von deren Existenz sie bislang nichts ahnte. Für einen Augenblick verschlägt es Liv den Atem, sofort hat sie Bilder aus ihrem Traum vor Augen: das Messer, das Sommerkleid und vor allem den Schnee.

Wie weit kommt ein alter Mann mit einem Fahrrad?

So weit?